Senso – Das Kundenmagazin von Helsana - page 17

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senso
3 / 2014
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ein Zweifel, wir leben im Zeitalter der real existieren-
den Gesundheitsreligion. All das, was man früher
für den lieben Gott tat, Wallfahrten, Fasten, gute Wer-
ke verrichten, das tut man heute für die Gesundheit.
Es gibt Menschen, die leben nur noch vorbeugend,
um dann gesund zu sterben. Aber auch wenn man ge-
sund stirbt, ist man definitiv tot. Wer Sinn für Realsatire hat, der
kommt im Gesundheitsbetrieb unserer Tage reichlich auf seine Kos-
ten. Man kann den bruchlosen Übergang von der katholischen Prozes-
sionstradition in die Chefarztvisite beobachten. Ohne das ganze Brim-
borium solcher Kultveranstaltungen wäre die Informationsgewinnung
womöglich kürzer und effektiver. Doch das gesundheitsfromme Publi-
kum fordert ungestüm seine Halbgötter in Weiss und ihre Rituale,
es fordert nicht bloss Heilung, sondern Heil, nicht bloss Lebensverlän-
gerung, sondern den Sieg über den Tod, nicht bloss Beseitigung von
Leid, sondern die Herstellung von Glück. Ablasswesen, Sektenplage,
Glaubenskämpfe, auch diese Unarten der traditionellen Konfessionen
finden sich hier nachgeäfft. Diätbewegungen gehen wie wellenförmi-
ge Massenbewegungen über das Land, in ihrem Ernst die Büsser- und
Geisslerbewegungen des Mittelalters bei Weitem übertreffend. Und
der Blasphemieschutz ist komplett von den Altreligionen auf die
Gesundheitsreligion übergegangen. Über Jesus Christus kann man in
unseren Breiten jeden noch so albernen Scherz machen, aber bei der
Gesundheit hört der Spass auf.
Das Thema birgt sozialen Sprengstoff. Wenn nämlich Gesundheit
tatsächlich, wie alle Welt sagt, das höchste Gut wäre, dann wären
maximale Diagnostik und maximale Therapie für jeden Einzelnen
von uns absolute Pflicht der Gesellschaft und des Staates. Das aber
bedeutete den sofortigen finanziellen Zusammenbruch des Gesund-
heitswesens. Jeder Kundige weiss, dass der politisch korrekte Satz
«Alles medizinisch Notwendige für jeden Bürger muss selbstverständ-
lich geschehen» schon jetzt utopisch ist. Noch vor fünfzig Jahren
war es wohl möglich, alles medizinisch Sinnvolle für alle solidarisch
zu finanzieren. Diese Zeiten aber sind unwiederbringlich vorbei.
Die sakrale Hochwertung der Gesundheit lässt den Gesundheitsbe-
reich boomen. Die immensen Kosten, die wissenschaftliche For-
schung und technischer Fortschritt dadurch auf diesem Gebiet auslö-
sen, sprengen inzwischen alle Grenzen. Dabei geht es nicht, wie gerne
beschwichtigend gesagt wird, um «Luxusmedizin», sondern durchaus
um sinnvolle medizinische Hilfen. Immer noch ist die alte utopische
Definition der Weltgesundheitsorganisation in allen Köpfen, Gesund-
heit sei «völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden».
Das ist natürlich für niemanden wirklich erreichbar. Gesundheit ist
ein hohes Gut. Nichts also gegen einen verantwortungsvollen Um-
gang mit Gesundheit, nichts gegen seriöse Prävention, es kommt auf
das rechte Mass und die richtige Portion Eigenverantwortung an.
Doch eine utopische Gesundheitsdefinition und zugleich die sakrale
Aufladung des Gesundheitsbegriffs führen für uns alle in eine
ökonomisch hochattraktive Sackgasse.
«Es gibt Menschen, die
leben nur noch vorbeugend,
umdann gesund zu
sterben. Aber auch wenn
man gesund stirbt,
ist man definitiv tot»
Ein Essay von Manfred Lütz
DR. MANFRED LÜTZ
Der Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses in Köln ist
unter anderem Autor des Bestsellers «Lebenslust – Wider
die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult».
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